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«Unser Land ist offener geworden»

Wo steht die Schweiz ein Jahr nach den grossen «Black Lives Matter»-Kundgebungen? Sechs Personen blicken zurück - und nach vorn.

Demonstrierende während eines Protests in Lausanne im Juni 2020. Foto: Laurent Gillieron
Alexandra Kedves, Martin Fischer, Aleksandra Hiltmann
Aktualisiert am 12. Juni 2021

Vor etwas mehr als einem Jahr wurde in den USA der Afroamerikaner George Floyd von einem Polizisten ermordet. Die «Black Lives Matter»-Proteste gegen das Verbrechen und gegen Rassismus schwappten bald auf andere Länder über, auch auf die Schweiz. Trotz Corona gingen Tausende auf die Strassen, um rassistische Diskriminierung hierzulande anzuprangern. Ein Jahr danach fragen wir bei jenen nach, die sich an der Debatte beteiligt haben: Was hat das mit unserem Land gemacht? Wie erlebten die sechs Protagonistinnen und Protagonisten dieses letzte Jahr?

«Unser Land ist offener geworden»

Angélique Beldner, TV-Moderatorin und Protagonistin im «Reporter»-Film «Rassismus in der Schweiz – Der Sommer, in dem ich ‹Schwarz› wurde»

«Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich mit Mitte 40 einen so grossen inneren Wandel vollziehen kann. Die «Black Lives Matter»-Bewegung hat meinen Blick auf unser Land in Bezug auf Rassismus verändert, aber auch den Blick auf meinen persönlichen Umgang damit.

Ich habe heute Worte für viele Dinge, die mir bis vor einem Jahr noch fehlten. Ich kann benennen, was ich empfinde. Und ich kann es so erklären, dass ich das Gefühl habe, dass mein Gegenüber es versteht.

Ich spüre, dass viele Menschen deutlich achtsamer geworden sind. Sie sind bereit, aufmerksamer hinzuschauen – bei anderen und auch bei sich selbst. Daraus entstehen oft interessante Gespräche. Ich werde öfter nach meiner Meinung zum Thema Rassismus gefragt, aber man sagt mir auch öfter ungefragt die Meinung. Auch das sind für mich Gesprächsangebote, die ich eigentlich immer anzunehmen versuche. Denn genau diese Offenheit ist es doch, die uns am Ende weiterbringt.

Auf den «Reporter»-Film erhielt ich gegen 1000 Rückmeldungen. Viele haben mir sehr persönliche Geschichten erzählt. Da war es mir wichtig, diese Nachrichten auch gebührend zu beantworten. Und gleichzeitig hat es mich emotional durchgeschüttelt. Da waren die verständnisvollen Reaktionen, die unterstützenden, die von Betroffenen mit ihren eigenen Geschichten. Aber auch die kritischen, die besserwisserischen und die versteckt oder gar offen rassistischen.

Ich erkannte, dass diese Rückmeldungen ein eindrückliches Bild darüber abgeben, wo unser Land nach dem Sommer 2020 stand. Daraus ergab sich die Idee, diese Rückmeldungen in ein Buch einfliessen zu lassen, das ich nun zusammen mit dem Schriftsteller Martin R. Dean geschrieben habe. Das Buch wird voraussichtlich im Herbst erscheinen.

Ich finde, unser Land ist offener geworden. Aber ich habe manchmal auch Angst vor einer Rückwärtsspirale. Die Debatten werden teilweise sehr aggressiv geführt. Doch wer sich angegriffen fühlt, entwickelt eine Abwehrhaltung. In gewissen Diskussionen geht es mir zu sehr darum, wer nun recht hat und wer falsch liegt. Wir müssen aufpassen, dass wir dabei das grosse Ganze nicht aus den Augen verlieren.

Ich wünsche mir, dass wir die Debatte weiterführen. Konstruktiv, ohne einander anzuklagen. Wenn ich über Rassismus lese, lese ich oft über das «wir» und das «ihr». Ich fände es schön, wenn wir das nicht trennen müssten. Wir sind eine Gesellschaft und Rassismus ist ein Thema, das uns alle etwas angeht.»


Den SRF-«Reporter» «Rassismus in der Schweiz – Der Sommer, in dem ich ‹Schwarz› wurde» gibts hier in voller Länge.

«Die ‹BLM›-Proteste haben einigen Schwarzen Menschen ein neues Selbstbewusstsein gegeben»

Serena O. Dankwa, Sozialanthropologin und Geschlechterforscherin; sie ist für eine NGO tätig.

«Die «BLM»-Proteste im letzten Sommer haben einigen Schwarzen Menschen in der Schweiz ein neues Selbstbewusstsein gegeben, um rassistische Situationen als solche anzusprechen. Und gesellschaftlich hat sich ein grösseres Problembewusstsein entwickelt. Das ist spürbar und begrüssenswert. Ich zum Beispiel werde oft an Podien eingeladen, und in den Medien haben Menschen von ihren Erfahrungen mit Alltagsrassismus erzählt.

Aber institutionell hat sich nicht allzu viel getan.

In Polizei, Schulen, Sozialämtern und Asylzentren gibt es eine Menge verdeckten Rassismus. Ein Beispiel ist die Gewalt von Securitas-Personal gegenüber Asylsuchenden. Auch die Suizidversuche aufgrund der perspektivlosen Situation in den Bundesasylzentren sprechen Bände. Ein strukturelles Problem ist zudem der «racial capitalism», der mit der Ausbeutung von Menschen aus dem globalen Süden operiert; dieser widerspiegelt sich in der Migrationspolitik.

Ich wurde an der Uni auch schon für eine Putzfrau gehalten statt für eine Dozentin. Das sagt etwas darüber aus, wo in der Schweiz Schwarze Menschen erwartet und geduldet werden, aber es genügt nicht, sich darüber aufzuregen. Wichtiger wäre, sich mit dem Reinigungspersonal zu solidarisieren, bessere Arbeitsbedingungen und eine gerechtere Betriebskultur einzufordern.

In Zürich fragte 2020 eine Gruppe Schwarzer Künstler*innen über 70 Kulturbetriebe, was sie hinsichtlich Rassismus unternähmen – nur drei antworteten. Man darf also die Scheinprominenz der Thematik oder einzelner Personen durch ein kurzes Zeugnis in den Medien nicht mit echtem Veränderungswillen verwechseln.

Auch das Interesse an Testimonials von «Betroffenen» ist für mich eine zweischneidige Angelegenheit. Menschen werden dabei oftmals verheizt und als Feigenblatt benutzt. Zudem lenkt es ab von den institutionellen Ungerechtigkeiten. Und davon, dass die Bringschuld eigentlich bei denen liegt, die vom Rassismus profitieren, wie die afroamerikanische Autorin Toni Morrison immer betonte. Sie müssen sich «racial literacy» erarbeiten, ihre Privilegien und ihr Unwissen erkennen.»

«Die Diskussion um rassistische Begriffe finde ich nach wie vor übertrieben»

Gabriella Binkert, 2020 als Gemeindepräsidentin (SVP) im Val Müstair gewählt, Geschäftsführerin einer Firma

«Ich war überwältigt von den Reaktionen auf meinen SRF-«Arena»-Auftritt im Juni 2020. Zu 99 Prozent waren sie positiv. Im Tal kamen viele ältere Frauen auf mich zu, um über Rassismus zu sprechen. «Sag mal», fragten sie, «hattest du Probleme? Wie war das, als du zu uns ins Tal gekommen bist?» Ich antwortete, dass ich keine Probleme gehabt hätte. «Ihr wart toll.» Viele sagten auch, dass sie stolz auf mich seien. Ich finde es gut, dass man sich traute, darüber zu sprechen. Die Leute sind nicht nur hier im Tal offener geworden, Rassismus zu thematisieren.

Als ich dieses Jahr Schwarze Personen als Expertinnen und Experten im Fernsehen sah, fragte ich mich: Wurden sie nur angestellt, weil sie Schwarz sind? Ich glaube, viele Arbeitgeber haben Angst, sich die Finger zu verbrennen, wenn sie eine nicht-weisse Person für einen Job ablehnen. Das sollte nicht sein. Der Mensch und seine Leistung sollten im Vordergrund stehen, nicht das Aussehen, das Geschlecht oder die Hautfarbe. In meinen Augen wurde ich auch nicht zur Gemeindepräsidentin gewählt, weil ich eine Frau bin.

Über sogenannte rassistische Begriffe denke ich gleich wie vor einem Jahr. Ich finde die Diskussion darum übertrieben. Man kann auch jemandem korrekt sagen, er sei eine Schwarze Person, und es im Ton doch abwertend meinen. Dennoch sind sich die Leute bewusst geworden, wie man sich anständig ausdrückt. Auch ich würde heute kontern: N-li, das sagt man wirklich nicht mehr.

Auch bezüglich der Kolonialgeschichte hat sich meine Position nicht verändert. Wenn wir über Kolonialismus sprechen wollen, müssen wir auch im Bezug auf heute ehrlich sein: Viele Länder behandeln Menschen noch immer wie Sklaven. Das hört nicht auf, nur weil wir Statuen niederreissen.

Ich habe keinen neuen Zugang zum Thema gefunden, ich hatte immer meine Haltung und bin immer einfach geradeaus durchs Leben gegangen mit meiner dunklen Hautfarbe. Man muss aufpassen, dass man sich selbst nicht etwas vorjammert. Ich habe mich schon als Kind gewehrt. Wenn mich heute jemand fragt, ob ich Deutsch spreche, könnte ich natürlich beleidigt sein. Aber man kann darüberstehen. Jemand, der in der Vergangenheit wirklich Probleme hatte, der verfolgte die «Black Lives Matter»-Diskussion in diesem Jahr aber bestimmt anders als ich.

Und weil es diese Probleme noch immer gibt, finde ich es wichtig, dass Kinder bereits in der Schule mehr Toleranz lernen. Nicht nur Schwarzweiss. Sondern einfach betreffend Menschen – mit Migrationshintergrund, mit Handicap. Und jene, die zu uns kommen, müssen sich auch öffnen und den Gegebenheiten anpassen. Wir profitieren alle, wenn wir offener sind.»

«Beim Thema Racial Profiling wird es immer Konflikte geben»

Daniel Blumer, Kommandant Stadtpolizei Zürich

«Als ich letzten Sommer die vielen Menschen auf der Strasse sah, hatte ich Verständnis für deren emotionalen Aufruhr. Für die Polizeiarbeit habe ich in diesem Jahr aber keine neuen Erkenntnisse erlangt aus den Kundgebungen oder der Rassismus-Debatte. Das Thema Racial Profiling beschäftigt uns seit langem, aufgrund eines breit angelegten Projekts seit vier Jahren besonders intensiv. Wir haben auf Vorwürfe reagiert und neue Regeln geschaffen. Unter anderem müssen Polizeiangehörige nun den Grund für eine Personenkontrolle nennen und die Kontrolle über eine App erfassen.

Racial Profiling in der Schweiz

Alle Polizistinnen und Polizisten werden bereits in ihrer Grundausbildung zum Thema Rassismus und Racial Profiling geschult, später jährlich an Weiterbildungen. Wer aber erwartet, dass in einem Corps von 2200 Mitarbeitenden nie jemand einen Fehler macht, den muss ich enttäuschen. Fehler kommen vor. Wir können aber die Wahrscheinlichkeit dafür senken. Beim Thema Personenkontrollen wird es wohl immer Konflikte geben. Wenn wir jemanden mit dunkler Hautfarbe kontrollieren, hören wir wiederholt den Vorwurf, wir seien per se rassistisch. Das ist falsch und schadet unserer Arbeit. Stärker an der selbstkritischen Haltung arbeiten kann man aber immer.

Natürlich haben wir auch dunkelhäutige Leute bei uns im Corps, wenn auch wenige. Um als Polizist oder Polizistin bei der Stadtpolizei Zürich arbeiten zu können, gilt die Voraussetzung: Wer am Ende der Ausbildung das Schweizer Bürgerrecht hat, kann sich bei uns bewerben, wenn er oder sie dazu alle anderen Anforderungen erfüllt. So will es das Gesetz, somit das Volk. Wenn es nach mir ginge, könnte sich jede Person, ob mit oder ohne Schweizer Pass, bewerben. Hauptsache: Sie oder er ist hier vollständig assimiliert. Hier zählt für mich vor allem die Sprache dazu.

Wenn es um Sprache und Political Correctness geht, wirkt das auf mich aber oft künstlich. Allerdings glaube ich daran, dass Sprache sich auf die Haltung auswirkt und umgekehrt.

Ich spüre nicht, dass die Diskussion durch die Demonstrationen und Kundgebungen eine andere Qualität bekommen hat. Rassismus ist seit Jahren ein Thema in der Schweiz, zumindest in der städtischen Gesellschaft.

Aber es hilft wohl, Rassismus immer wieder zu thematisieren, damit sich jede Person die Frage stellt: «Was kann ich dagegen tun?»»

«Die Redaktion und mich hat es durchgeschüttelt»

Sandro Brotz, moderierte beide «Arena»-Sendungen zum Thema Rassismus (er hat schriftlich geantwortet)

«Anfang Juni letzten Jahres – rund eine Woche vor der ersten der beiden «Arena»-Sendungen zum Thema Rassismus – bin ich an einem Samstag in Zürich zufällig an einer «Black Lives Matter»-Kundgebung vorbeigekommen. Damals habe ich mir auch die Frage gestellt, ob die öffentliche Debatte in der Schweiz zum Thema Rassismus länger andauern oder ein kurzfristiges Phänomen bleiben wird. Angesichts der vielen und sehr unterschiedlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer war mein Eindruck, dass es den Nerv einer breiteren Gesellschaftsschicht getroffen hat.

Einzelne Kundgebungsteilnehmerinnen und -teilnehmer haben mich darauf angesprochen, ob Rassismus auch demnächst ein Thema in der «Arena» sei. «Wir sind dran», habe ich geantwortet und hätte nie gedacht, kurz darauf selbst mitten in einer heftig geführten Debatte zu stehen.

«Jetzt reden wir Schwarzen» lautete der Titel der ersten Sendung, die im Nachgang heftig kritisiert wurde. Unter anderem wegen der Zusammensetzung der Teilnehmenden – es diskutierten auch Weisse mit – und weil die angesprochenen Themen laut Ombudsstelle teilweise nicht sachgerecht erörtert worden waren.

Persönlich hat mich dieser Prozess geprägt wie kaum ein anderer in meiner journalistischen Arbeit. Ich meine damit nicht allein den Shitstorm nach der ersten Sendung, sondern die Einsicht, dass die Herangehensweise an die Diskussion nicht geglückt ist. Das war zunächst schmerzhaft, weil die erste Sendung unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden war. Wir haben nicht die Thematik, aber die Wirkung des Settings der Sendung in Kombination mit dem Titel unterschätzt.

Zusammenfassend hat es die Redaktion und mich durchgeschüttelt, aber auch weitergebracht. Journalistisch und persönlich. Es hat nicht nur dazu geführt, dass wir einen zweiten Anlauf mit einer anderen Zusammensetzung und mit einem runden Tisch im Studio genommen haben – es hat auch das Bewusstsein für sensible Themen und deren Umsetzung noch mehr geschärft. Ich denke, dasselbe gilt für das Land insgesamt.

Bei SRF haben sich im Nachgang auch Netzwerke und Arbeitsgruppen zu verschiedenen Diversity-Bereichen gebildet. Mit einzelnen Gästen aus der ersten und zweiten Rassismus-«Arena» habe ich bis heute Kontakt.

Demgegenüber habe ich den Eindruck, dass die Thematik der «Black Lives Matter»-Kundgebungen in der Politik nicht wirklich auf grossen Nachhall gestossen ist. Letztlich ist die Rassismus-Debatte aber – wie viele andere Themen auch – von der Corona-Krise verdrängt worden.»

«Die Betroffenen werden nun mehr einfordern»

Rahel El-Maawi, Lehrbeauftragte für Soziokultur, Beraterin für diversitätsorientierte Organisationskultur; Aktivistin beim Netzwerk Schwarzer Frauen und non-binärer Menschen Bla*Sh

«Wir stehen nicht nur ein Jahr nach der Ermordung von George Floyd, sondern auch 27 Jahre nach der Einführung der Rassismusstrafnorm in der Schweiz. Und der Diskurs um Rassismus hier im Land ist noch älter. Er ist zum Glück immer hörbarer geworden – gerade während des letzten Jahres, auch dank den Medien. Die Politik aber hat dazu kaum Statements abgegeben. Auch bei Behörden scheint es, dass sie noch immer grossen Respekt davor haben, deutlich zu werden in diesem Thema.

Es gab dennoch mutige Schritte. Die Stadt Zürich erarbeitet, wie sie mit rassistischen Häusernamen umgehen möchte, die Stadt Bern hat entschieden, jene Personen, die rassistische Stellen im Wandbild im Schulhaus Wylergut übermalt haben, nicht anzuzeigen, das Bild übermalt zu lassen und es so einem Museum zu übergeben. Für diese Fortschritte jedoch haben selbst organisierte Gruppen jahrelang gekämpft. Ich weiss von Briefen, die in den 1990er-Jahren den beiden Städten zugesandt wurden.

Häusernamen im Niederdorf in Zürich
Wandbild im Schulhaus Wylergut in Bern

Ich arbeite regelmässig mit Schulklassen. Und stellte fest: Für Schüler*innen mit Rassismuserfahrung war das vergangene Jahr sehr bewegend. Viele haben eine Sprache gefunden, um auszudrücken, was ihnen passiert. Die Wortkombination Schule und Rassismus stösst jedoch noch immer viele vor den Kopf. Dabei ist das keine persönliche Anfeindung, sondern eine Tatsache, dass wir alle, wirklich alle, eine bestimmte Bewertung von Menschen gelernt haben, weil wir in einem rassistischen System gross geworden sind.

Auch mit vielen Journalist*innen stand ich während des letzten Jahres intensiv in Kontakt – bis zu vier Stunden Medienanfragen habe ich im Anschluss an meinen eigentlichen Job jeweils beantwortet. Den wenigen anderen Fachpersonen ging es oft ähnlich. Wir leisteten auch viel Hintergrundarbeit, weil die Medien das Wissen im Umgang mit dem Thema in kürzester Zeit nachholen mussten.

Wenn ich Firmen und Hochschulen berate, stelle ich fest, dass es Nachholbedarf gibt. Viele der Diversity-Beauftragten wissen viel über sexuelle Gewalt und die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Aber nicht zwingend auch über rassistische Gewalt und wie man sich dabei verhält. Wenn es in Unternehmen zu rassistischer Diskriminierung kam, spürte ich oft Abwehrreflexe – «das findet bei uns doch nicht statt». Ich erlebe dann oft eine grosse Überforderung und Hilflosigkeit. Es zeigt, die meisten von uns haben nicht gelernt, darüber zu sprechen und haben auch zu wenig Wissen im Umgang damit.

Ich spüre aber auch einen Willen, die interne Kultur verändern zu wollen. Grosse Veränderungen waren in diesem Jahr trotzdem nicht zu sehen, es braucht weiterhin Geduld für die betroffenen Personen, bis sich eine antirassistische Kultur ausbreitet. Dennoch glaube ich, dass die betroffenen Menschen selbst nun mehr einfordern werden und dass das möglich geworden ist, weil heute öffentlich über das Thema diskutiert wird.

Ich wünsche mir mehr Präsenz und Repräsentation von Schwarzen Menschen und Menschen mit ersichtlicher Migrationserfahrung in der Öffentlichkeit, in den Medien, in Schulleitungen, in der Politik, in Behörden, in allen Schlüsselpositionen. Das ermutigt die jüngere Generation und zeigt ihr, welche Wege möglich sind.

Ich wünsche mir auch auf der individuellen Ebene, dass weisse Personen bereit sind, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, nicht mehr schweigen, und sich klar antirassistisch ausdrücken. Es braucht eine aktive Praxis, sonst gelingt es uns nicht, eine antirassistische Kultur aufzubauen. Und vor allem wünsche ich mir, dass wir als Gesellschaft über die Verwobenheit der Schweiz mit kolonialen Machenschaften sprechen lernen.»

Nicht nur in Zürich und Bern gingen im Juni 2020 viele auf die Strasse, um gegen Rassismus zu protestieren. Auch in Lausanne, St.Gallen, Genf und Luzern. Im Bild: Eine Aufnahme von der Demonstration in Basel. Foto: Georgios Kefalas/ Keystone

Q&A zur Sprache

Wofür steht PoC?

People of Color (Einzahl: Person of Color) ist eine Selbstbezeichnung, die Menschen verwenden, die Rassismus erfahren. Sie bezieht sich nicht auf die Hautfarbe einer Person. People of Color kann als englischer Begriff auch im Deutschen verwendet werden. Man kann ihn auch kombinieren, Beispiel: Familie of Color, Mädchen of Color.

Was bedeutet BIPOC?

Black, Indigenous and People of Color ist ebenfalls eine politische Selbstbezeichnung von Personen mit Rassismuserfahrung.

Ich habe immer wieder «Schwarze Person» gelesen, wieso ist das S gross?

Mit grossem S geschrieben, ist Schwarz eine politische Selbstbezeichnung, bezieht sich also nicht auf die Hautfarbe einer Person, sondern auf die geteilte Rassismuserfahrung. Es ist auch kein Adjektiv oder eine Art, vermeintlich biologische Merkmale zu benennen. Mit dem Begriff wird eine gesellschaftliche Position beschrieben, die von Rassismus betroffen ist, beziehungsweise Schwarze Menschen sind Menschen, die Rassismuserfahrungen machen.

Wie verhält es sich mit der Bezeichnung «weiss», und warum sehe ich sie immer wieder kursiv geschrieben?

Kursiv geschrieben, bezeichnet weiss beziehungsweise weisse Menschen eine gesellschaftliche Position, in der die entsprechenden Personen Privilegien innehaben. Der Begriff bezieht sich nicht auf biologische Merkmale. Er bezeichnet Personen, die keine Rassismuserfahrungen machen – wobei sie von anderen Formen der Diskriminierung betroffen sein können.

Darf ich noch «farbig» sagen?

Dieser Begriff stammt aus der Kolonialzeit und trägt eine negative Konnotation. Kritiker:innen bemängeln des Weiteren, dass der Begriff die Vorstellung mittrage, es gebe «unfarbige» Menschen, die als Norm gelten. Es ist ein hierarchisches Sprechverhältnis, wenn die einen bezeichnet werden und die anderen nicht. Diverse Fachpersonen raten also davon ab, den Begriff zu verwenden.

Was ist mit der Bezeichnung «dunkelhäutig»?

Diese Bezeichnung wurde Schwarzen Menschen von weissen gegeben. Oft wird der Begriff verwendet, um jemanden aus einer Gruppe gesondert zu bezeichnen, ohne dass etwa Weisse aus der Gruppe auch entsprechend als hellhäutig bezeichnet werden. Diverse Fachpersonen raten also davon ab, den Begriff zu verwenden.

Und wie steht es um den Begriff «Rasse»?

Sogenannte Menschenrassen gibt es biologisch gesehen nicht. Trotzdem wurde dieses Konstrukt aufgebaut, um etwa in der Zeit des Kolonialismus und Nationalsozialismus die Überlegenheit bestimmter Personengruppen zu legitimieren, beziehungsweise die Ausbeutung und Ermordung anderer Personengruppen ebenso zu rechtfertigen. Diverse Fachpersonen raten also davon ab, den Begriff zu verwenden.

 
Eine Teilnehmerin der Anti-Rassismus-Demonstration in Bern hält ein Schild in die Luft: «Bildet euch», steht darauf geschrieben. Bern, 13. Juni 2020. Foto: Peter Klaunzer/ Keystone