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So überwältigte Corona ein Altersheim – Zimmer für Zimmer

Über 20 Senioren starben im Pflegezentrum Circolo del Ticino. Die detaillierte Rekonstruktion zeigt erstmals, wie heimtückisch sich das Virus ausbreiten kann. Und in welches Dilemma die Mitarbeiter geraten.

Dominique Botti, Roland Gamp, Sebastian Broschinski
Aktualisiert am 21. März 2021

Es sind stille Katastrophen. Doch sie gehören zu den schlimmsten in der jüngeren Geschichte der Schweiz.

In gewissen Alterszentren starben letztes Jahr ein Viertel oder gar ein Drittel der Bewohner. Rund die Hälfte der hierzulande über 10’000 Corona-Opfer stammt aus Heimen.

Foto des Altersheims teilweise verdeckt von Bäumen
Vor einem Jahr befiel das Virus das Heim im Stadtteil Sementina. Und breitete sich auf sämtlichen Etagen aus.
Ti-Press / Alessandro Crinari

Meist ist das nur schwierig aufzuarbeiten. Doch nun gibt es einen Einzelfall, bei dem sich erstmals in allen Details rekonstruieren lässt, wie rasch das Virus ausser Kontrolle gerät. Wie schwierig es ist, die Bewohner zu schützen. Und wie schnell die Menschen sich infizieren und sterben. Es geht um das Altersheim Circolo del Ticino, bei Bellinzona. Vor einem Jahr starben dort über 20 der rund 80 Bewohner an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung. Und das innerhalb weniger Wochen.

Map of switzerland. Ticino is marked.

Der Tessiner Kantonsarzt hat minutiös nachgezeichnet, wie sich der tödliche Erreger im Hochhaus im Stadtteil Sementina ausbreitete. Tag für Tag, Etage für Etage. Der Untersuchungsbericht liegt der SonntagsZeitung vor. Er listet auch verschiedene Vorwürfe auf, von denen das Heim aber viele bestreitet. Mittlerweile befasst sich sogar die Tessiner Staatsanwaltschaft mit dem Circolo. Sie ermittelt nach einer Anzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen verschiedene Mitarbeiter. Dies ist schweizweit eine absolute Ausnahme. Der Fall ist komplex, die Argumente gehen weit auseinander und es gilt bis zum Schluss des Verfahrens die Unschuldsvermutung. Doch er ist auch über den Einzelfall hinaus wichtig. Denn es geht um grundsätzliche Fragen:

Hätten sich einzelne der stillen Katastrophen verhindern lassen? Oder sind es gehäufte Schicksale, wie sie am Lebensende oft unabwendbar sind? Und kann man dem Personal, das sich in einer ausserordentlich tragischen Situation aufopfernd abmühte, die Todesfälle tatsächlich zum Vorwurf machen?

Die folgende Grafik basiert auf den Daten aus dem Bericht des tessiner Kantonsarztes. Dieser stützt sich auf Tabellen des Altersheims, die teils unterschiedliche Zahlen enthalten. Es handelt sich daher nur um eine grafische Annäherung an die Geschehnisse.
5. MärzErkrankte BewohnerInnen

11. März 2020 ·Valeria dürfte nicht mehr zu ihrem Giorgio. Aber sie geht doch.

«Die Türen des Altersheims standen offen, am Empfang war kein Personal», sagt die 71-Jährige. «Also ging ich hinein und fuhr hoch in den dritten Stock.» Dort lebt ihr Ehemann. Vor 25 Jahren hatte Giorgio einen Schlaganfall erlitten. «Er war nicht mehr zu 100 Prozent selbstständig», erzählt seine Frau. «Aber seine Intelligenz, seinen Esprit hat er nie verloren.»

Das Coronavirus hat sich im Tessin ausgebreitet, insbesondere in der Region Bellinzona, die kurz zuvor gewohnt ausgelassen ihren Karneval, den Rabadan, feierte. Im Circolo del Ticino gab es schon erste Verdachtsfälle. Die Tests fielen aber negativ aus.

Giorgio sei an jenem Tag auf dem Gang gestanden, zusammen mit anderen Bewohnern. «Einer von ihnen fing an, stark und lange zu husten, also brachte ich meinen Mann zurück in sein Zimmer», erinnert sich Valeria.

Ihr Besuch wirft Fragen auf. Denn schon am 9. März hatte der Kanton Tessin ein Besuchsverbot für Altersheime verhängt. Und hier zeigt sich bereits das erste Problem. Wie hält man die Verwandten ab von Besuchen bei ihren Liebsten? Soll man Wachen aufstellen? Wie lässt sich das durchsetzen?

Das Circolo del Ticino sagt, es habe das Besuchsverbot umgesetzt. Auch der Kantonsarzt findet am Ende laut seinem Untersuchungsbericht keine Beweise für einen Verstoss. Valeria ist jedoch überzeugt: «Ich habe meinen Mann am 11. März im Altersheim getroffen.» Wie könnte sie das vergessen? «Es war das letzte Mal, dass ich Giorgio sah.»

16. März 2020 ·Zum ersten Mal gibt es einen positiven Corona-Test. Eine Mitarbeiterin der Hauswirtschaft hat sich infiziert. Allerdings war sie schon elf Tage nicht mehr im Circolo. Also wähnt man sich dort in Sicherheit.

Tatsächlich aber ist der Erreger bereits im Haus. Das Altersheim selbst zeichnet den Ausbruch wie folgt nach: Eine Pflegeassistentin hatte sich mit Corona infiziert. Sie steckte daraufhin eine Ärztin an, und diese übertrug das Virus wiederum auf einen Abteilungsleiter. All das passierte im Verborgenen, die positiven Testresultate liegen erst später vor. Die Pflegeassistentin ist asymptomatisch, während sie andere infiziert.

Und so befinden sich alle drei infizierten Angestellten am 16. März im Speisesaal im Erdgeschoss. Bis zu 26 Betagte kommen hier für Mahlzeiten zusammen. Drei von ihnen stecken sich an diesem Tag gemäss Rekonstruktion an.

17. März 2020 ·Niemand weiss, dass das Virus bereits grassiert. Dass man auch ohne Symptome ansteckend sein kann, ist damals erst wenig bekannt. Was sich jetzt besonders fatal auswirkt. Am Morgen steht im Circolo das «Frühstück am Klavier» auf dem Programm. Danach besuchen 13 Betagte die Hobbywerkstatt. Und am Nachmittag spielen elf Senioren bei der Tombola mit.

Das Angebot zeigt, wie bemüht das Personal ist, die Bewohner zu unterhalten. Der Kantonsarzt sieht hier aber einen Verstoss gegen die Richtlinien, die im Tessin gelten. Das Heim habe noch bis April «Animationsaktivitäten angeboten, obwohl diese hätten ausgesetzt werden müssen», steht im Untersuchungsbericht.

Die Direktion des Circolo steht zu diesem Entscheid. Sie schreibt in einer späteren Stellungnahme, man habe die Gruppenaktivitäten fortgeführt, weil diese einen wichtigen Einfluss auf das Wohlbefinden der Bewohner hätten.

Ein Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte, erklärt auf Anfrage: «Wir konnten die Bewohner nicht einfach in ihren Zimmern einsperren und die Tür abschliessen. Das wäre unethisch gewesen.» Es zeigt sich zum ersten Mal das grosse Dilemma aller Altersheime. Soll man die Menschen einschränken, um sie zu schützen?

35 Teilnehmer an Gruppenaktivitäten

21. März 2020 ·Jetzt herrscht Klarheit. Die Ansteckungen verschiedener Mitarbeiter haben sich bestätigt, auch zwei Bewohner im ersten Stock erhalten positive Testresultate. Zuvor haben sie immer zusammen mit den anderen Bewohnern im Speisesaal gegessen. Laut Geschäftsführung auch dies, «um die komplette Isolation zu vermeiden».

Es ist also zumindest möglich, dass bereits weitere Rentnerinnen und Rentner infiziert sind. Umso mehr, weil einer der Erkrankten sich gern überall im Haus bewegte, «um anderen Bewohnern seine Grüsse zu überbringen», steht im Bericht.

Es ist rührend. Aber brandgefährlich. Denn zur sofortigen Zimmerisolation aller Bewohnenden kommt es auch jetzt nicht. Stattdessen werden weiterhin gesellschaftliche Aktivitäten angeboten.

Problematisch ist aber auch, dass sich die gleichen Mitarbeiter zum Teil um sämtliche Betagte kümmern – und so das Virus von Stockwerk zu Stockwerk tragen können. Gerade bei den Nachtschichten ist es für Altersheime schwierig, mehrere Angestellte zu engagieren, die sich getrennt um einzelne Stockwerke kümmern. So war es auch im Circolo. Im Bericht des Kantonsarztes steht: «Die Nachtschichten vom 21., 22. und 23. März werden von der Pflegeassistentin X auf allen Etagen durchgeführt.»

22. März 2020 ·Bis jetzt dürfen Betagte im Parterre zusammen essen. Es gälte nun, die Abstandsregeln einzuhalten. Doch in der Praxis ist das schwierig. Was ist weit genug? Wie hält man das immer durch? «Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Bewohner im Speisesaal weit genug voneinander entfernt waren», kritisiert der Kantonsarzt. Die Angestellten hätten die Betagten bedient, «ohne dass es für diese Tätigkeit spezifische Regeln zur sozialen Distanzierung gibt».

Das Heim gibt später an, die Hygienevorschriften konsequent eingehalten zu haben. Man habe sich genau nach Protokoll verhalten und den korrekten Einsatz von Schutzmaterial auch überwacht.

23. März 2020 ·Erneut gibt es einen bestätigten Covid-Fall unter den Bewohnern der ersten Etage. Zudem hat eine Seniorin starkes Fieber. Es handelt sich laut Bericht um eine Alzheimer-Patientin, die einen ausgeprägten Bewegungsdrang hat. Ein wandelndes Risiko für Gesunde auf der gleichen Etage.

Der Kantonsarzt setzt nun auf strikte Trennung. Sein Büro gibt an diesem Tag eine Empfehlung heraus und fordert laut Untersuchungsbericht, «das Problem der Isolation der Bewohner mit Covid-19 durch die Schaffung einer eigenen Station anzugehen».

Gesunde Personen und kranke Personen sollen nicht mehr im gleichen Bereich des Heims leben, um die Verbreitung des Virus zu unterbinden. So zumindest die Theorie.

24. März 2020 ·Die Angestellten bemühen sich, den Alltag im Circolo irgendwie erträglich zu machen. Auch heute bieten sie verschiedene Aktivitäten an, die gut besucht sind. Was verdeutlicht, wie sehr die Senioren das Angebot schätzen. Nur werden sie so auch einem Risiko ausgesetzt.

Die Heimleitung verteidigt sich später damit, dass es auf dem ersten Stock kein Unterhaltungsprogramm mehr gab, nachdem der erste positive Test vorlag. Man habe diese immer nur auf Etagen angeboten, «auf denen sich das Virus noch nicht ausgebreitet hatte».

Bestätigte Fälle gibt es zwar nur im ersten Stock. Aber die Vorzeichen stehen schlecht. Pflegeassistentin X erhält am 24. März 2020 ein positives Testresultat. Ausgerechnet sie hatte in den Tagen zuvor die Nachtschicht auf sämtlichen Etagen übernommen.

28 Teilnehmer an Gruppenaktivitäten

25. März 2020 ·Die Direktion des Altersheims informiert laut Untersuchungsbericht den Kanton, dass neu eine «Covid-Station» im ersten Stock eingerichtet worden sei, «mit einem Team, das sich diesen Patienten widmet».

Der Kantonsarzt beurteilt dies später jedoch kritisch. Man habe in der ersten Etage zwar einen Bereich für erkrankte Senioren eingerichtet. Aber ihre gesunden Mitbewohner blieben auf dem gleichen Stock, was sie «der Gefahr einer Infektion aussetzt», wie es im Bericht heisst. «Es gab zwar engagiertes Personal, aber keine strukturelle Covid-Abteilung.»

Das Altersheim sagt später, die Anweisungen des Kantons zur konkreten Umsetzung der Covid-Station seien zu vage gewesen. Vor allem aber zeigt sich, wie die Theorie in der Praxis oft nur schwierig umzusetzen ist. «Idealerweise hätte man natürlich die beiden Gruppen getrennt», sagt der Leiter eines anderen Heims. Aber längst nicht alle Institutionen hatten dafür die nötigen Mittel. «Die Separierung erfordert fast unmögliche Ressourcen und Räume.»

7 Teilnehmer an Gruppenaktivitäten

28. März 2020 ·Giorgio stirbt im Alter von 77 Jahren. Gut zwei Wochen, nachdem ihn seine Ehefrau Valeria zum letzten Mal im Circolo besucht hatte. 33 Jahre waren die beiden verheiratet. «Mein Mann war mein ganzes Leben», sagt sie. «Und dann ist er einfach so gegangen.»

Um 21.30 Uhr habe man im Circolo seinen Tod festgestellt. Die genaue Ursache bleibt unklar. «Am Tag zuvor haben sie mich angerufen und gesagt, Giorgio habe eine Lungenentzündung», erinnert sich die Witwe.

Valeria sagt, ihr sei bewusst, dass ihr Mann vermutlich kein langes Leben mehr vor sich gehabt hätte, mit oder ohne Corona. Aber das sei nicht der Punkt. «Man muss doch sowieso alles tun, um die Menschen zu schützen.»

Das Personal ist extrem bemüht. Doch inzwischen ist klar, dass es dem Virus immer einen Schritt hinterherhinkt. Es gibt nun bestätigte Fälle auf dem vierten und auch auf dem dritten Stock. Nach Möglichkeit werden Erkrankte in die erste Etage verlegt.

Trotzdem greift das Virus nun unaufhaltsam um sich. Vor allem im dritten Stock schweben die Bewohner in tödlicher Gefahr. Der Untersuchungsbericht hält fest: «Auf dieser Etage lebten einige der ältesten und gebrechlichsten Menschen des Hauses und waren dementsprechend hilfsbedürftiger.» Das Essen sei daher in einem «kleinen Raum auf der Etage» serviert worden. Dort sei es wahrscheinlich zu weiteren Ansteckungen gekommen.

2. April 2020 ·Alvara Ciappini leidet an leichter Demenz, trotzdem ist die Bewohnerin des Circolo del Ticino noch relativ selbstständig. Doch nun geht es ihr schlecht. Sie hat Fieber. Ein Corona-Test fällt positiv aus. «Ich konnte es nicht glauben», sagt Martha, die Tochter der Betroffenen. «Das Heim war doch seit Wochen geschlossen. Wie konnte das Virus dann trotzdem hineinkommen?»

Vor der Pandemie kam Martha täglich vorbei, um ihre Mutter im Circolo zu sehen. Nach dem Besuchsverbot weichen die beiden auf Anrufe aus.

Das Personal ist auch hier bemüht. Die Pflegeleiterin etwa gibt immer wieder ihr eigenes Handy an Bewohner ab, damit sie mit Angehörigen telefonieren können. Und die Leitung richtet eine Möglichkeit für Videotelefonie ein. Aber es gibt laut Untersuchungsbericht technische Schwierigkeiten, der Empfang im Haus ist zum Teil schlecht.

«Anfang April bat ich um einen Videoanruf», erinnert sich Martha. Die Pflegeleiterin habe ihre Mutter zugeschaltet. «Es war ein schreckliches Bild. Ihr Gesicht war geschwollen, ihre Augen geschlossen. Als sie meine Stimme hörte, öffnete sie die Augen und sagte: Hilf mir.» Dann sei die Verbindung abgebrochen.

Laut Bericht des Kantonsarztes machen auch andere Angehörige solche Erfahrungen. «Insbesondere wird von der Schwierigkeit berichtet, mit ihren Angehörigen zu kommunizieren und Nachrichten über ihren Gesundheitszustand zu erhalten.» Das habe für viel Frust und auch Wut bei Familienmitgliedern geführt.

Auch Martha ist enttäuscht. Den Videoanruf mit ihrer Mutter, der so abrupt endete, kann sie nicht vergessen. «Danach sah ich sie nie wieder», sagt die Tochter. «Sie starb wenige Tage später, ganz allein.»

3. April 2020 ·Noch immer arbeitet das Nachtpersonal laut Kantonsarzt auf allen Etagen. So lange, bis das Virus auch im obersten Stockwerk angekommen ist. Wie das passieren konnte, ist umstritten.

Sicher ist, dass sich der Erreger auf der fünften Etage jetzt schnell ausbreitet. Offenbar gibt es auch dort keine strikte Isolation. Auch hier aus einem nachvollziehbaren Grund: Die Hälfte der Bewohner haben gemäss Untersuchungsbericht Krankheiten wie etwa Alzheimer, die eine Abschottung schwierig machen. «Folglich nahmen viele von ihnen das Mittagessen gemeinsam ein und lebten im Gemeinschaftsraum der Station.»

12 der 16 Senioren auf der fünften Etage werden am Ende erkranken.

1 Teilnehmer an Gruppenaktivitäten

8. April 2020 ·In der Schweiz sind die Corona-Zahlen nun auf dem Höchstand der ersten Welle. Der Bundesrat verlängert den Lockdown. Erst jetzt werden auch im Circolo del Ticino die gemeinschaftlichen Aktivitäten eingestellt – einen Monat nach dem Verbot des Kantons.

Die Zahl der Infizierten und Toten im Altersheim steigt. Und im Circolo passiert das, worüber zahlreiche Altersheime später berichten. Das Personal kommt an den Anschlag.

Den Mitarbeitenden wird jetzt psychologische Hilfe angeboten. Die sich häufenden Tragödien gehen ihnen nahe. «Wir haben eine enge Bindung zu unseren Bewohnern», sagt ein Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte. «Jeder einzelne Todesfall war sehr schwer zu verkraften.»

16. April 2020 ·Das Coronavirus breitet sich immer weiter aus im Haus. Die Lage scheint ausser Kontrolle. Dennoch lässt das Heim nun Maler in den dritten Stock. «Trotz der gemäss der verordneten Notlage bestehenden Abriegelung», hält der Kantonsarzt in seinem Bericht fest. Immerhin sind die Arbeiter laut Heimleitung nur im Ostflügel tätig, wo sich bereits keine Bewohner mehr befunden hätten.

Der Kantonsarzt erfährt erst später von den Malern. Bis jetzt glaubt er, dass die Situation im Circolo unter Kontrolle ist. Doch das ändert sich nun schlagartig. Sein Büro fragt an jenem Tag per Telefon bei der Pflegeleiterin nach, was man aktuell unternehme, um das Virus einzudämmen. Er ist mit den Antworten nicht zufrieden. Also kündigt der Kanton an, die Einrichtung werde am nächsten Tag besucht.

17. April 2020 ·Der Augenschein vor Ort offenbart laut Bericht des Kantonsarztes verschiedene kritische Punkte. Die Infektionsabteilung sei nur unvollständig umgesetzt, kranke und gesunde Senioren lebten nach wie vor auf der gleichen Etage. Die Dokumentation, um den Ausbruch innerhalb des Hauses zu überwachen, sei unzureichend. Die Maler sind auch an diesem Tag wieder im Haus.

Der Kantonsarzt ordnet sofort Massnahmen an. Die Aufnahme neuer Bewohnern wird verboten. Alle Mitarbeitenden und alle Betagten sollen zum Corona-Test. Den Malern wird der Zutritt zum Haus untersagt. Infizierte und Gesunde werden künftig nach Etagen getrennt. Für die einen sind der erste und der fünfte Stock reserviert, für die anderen der zweite und der vierte. Die dritte Etage bleibt leer.

Für die beiden Corona-Stockwerke soll ein streng beschränkter Zugang gelten, es gibt separate Umkleidekabinen und spezifisches Personal. Kurzum: Es werden laut Kantonsarzt zwei «echte» Covid-Stationen errichtet, deren Bau, Organisation, Hygiene, Schutzmaterial und Personalplan «der guten Praxis» entspricht.

30. April 2020 ·Zwei Wochen nach dem Augenschein vor Ort erhält der Tessiner Kantonsarzt die Unterlagen, die er von der Heimleitung eingefordert hat. Es offenbart sich ein Chaos in den Daten des Circolo. «Die verschiedenen bereitgestellten Dokumente sind unstrukturiert, es ist nicht immer klar, was dokumentiert wird, und einige Punkte sind ungenau ausgefüllt», steht im Bericht. «Die Gegenprüfung der Dokumente zeigt mehrere Ungenauigkeiten, wie zum Beispiel die Daten, an denen Abstriche durchgeführt wurden, sowie interne Transfers zwischen einer Abteilung und einer anderen.»

Sogar bei den Todesfällen gibt es Unklarheiten, den Dokumenten fehle es «an einer operativen Logik». Die Direktion des Circolo gibt bei der Datenerfassung gewisse Mängel zu. Allerdings gab es auch dafür Gründe, wie eine spätere Stellungnahme der Direktion zeigt: «Im Altersheim Sementina war es leider aufgrund der Schnelligkeit der Ausbreitung des Virus und der Anzahl der Ansteckungen in so kurzer Zeit nicht möglich, die Daten und die Ansteckungsketten weiter zu verfolgen.»

Mai 2020 ·Die neuen Massnahmen wirken. «Seit dem 10. Mai, also nach der klinischen Genesung und der langen Isolation der letzten an Covid erkrankten Bewohner, hat das Haus keine weiteren positiven Fälle mehr gemeldet», berichtet der Kantonsarzt.

Noch im gleichen Monat kann er in einem Schreiben «das Ende des Covid-19-Ausbruchs im Heim» bestätigen. Die traurige Bilanz: Über 20 Personen sind verstorben.

Juni 2020 ·Das Circolo del Ticino darf nun wieder neue Bewohner aufnehmen. Die Sache scheint ausgestanden. Doch am 10. Juni erhebt Valeria, die Frau des verstorbenen Giorgio, in einer Radiosendung von Radiotelevisione Svizzera öffentlich Vorwürfe.

In der Folge beschweren sich auch andere Angehörige. Zudem greifen verschiedene Politiker den Fall auf. Sie wollen Klarheit. «Sind diese vom kantonalen Arzt aufgeführten Tatsachen wahr oder handelt es sich um Erfindungen», fragt zum Beispiel Tuto Rossi, SVP-Stadtrat von Bellinzona, später in einer Interpellation.

Und schon am 18. Juni reicht Anwältin Sandra Xavier Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen verschiedene Mitarbeiter ein. Das Heim habe verschiedene Corona-Weisungen nicht eingehalten. Xavier vertritt dabei eine Frau, die ihren Vater während der ersten Corona-Welle im Circolo del Ticino verlor. «Meine Klientin will Gerechtigkeit», sagt sie. «Ihr Vater hatte Probleme beim Gehen, aber sonst war er bei guter Gesundheit und hätte noch viele Jahre leben können.»

Dass die Tessiner Staatsanwaltschaft später ein Verfahren eröffnet hat, ist wohl eine absolute Ausnahme. Die Strafbehörden von Aargau, Basel-Stadt, Luzern, St. Gallen und Solothurn geben auf Anfrage alle an, keine Kenntnisse zu haben von Anzeigen gegen Altersheime in Zusammenhang mit der Pandemie. In Graubünden gab es zwar eine Anzeige, aber ein Verfahren wurde nicht eröffnet.

Die Untersuchungen der Behörden zum Circolo del Ticino dauern bis heute an. Die betroffenen Mitarbeitenden und ihre Anwälte äussern sich auf Anfrage nicht.

August 2020 ·Es bleibt die Frage, ob die Katastrophe im Circolo tatsächlich zu verhindern gewesen wäre. Die Stadt Bellinzona schreibt auf Anfrage, dass es während der ersten Pandemiewelle zu 150 Todesfällen in Tessiner Altersheimen kam, doch in der Zweiten waren es 236. Im Circolo del Ticino und den anderen drei Heimen, die zur Stadt Bellinzona gehören, gab es in der zweiten Welle keine Todesfälle. «Es ist also gerechtfertigt zu fragen, wie dieser dramatische Anstieg der Fallzahlen zwischen der ersten und zweiten Welle möglich war, wenn sich doch alle an die Regeln gehalten haben», schreibt die Stadt. «Ist es nicht möglich, dass andere Faktoren die Sterberate bestimmten?»

Der Bericht des Tessiner Kantonsrats kritisiert: «Das fehlende rechtzeitige Eingreifen und die nur teilweise oder suboptimale Umsetzung von Massnahmen zur Eindämmung einer Epidemie mit Tröpfchenübertragung könnten nach unseren Erkenntnissen die Ausbreitung der Ansteckung unter Bewohnern und Personal begünstigt haben.»

Die Direktion des Circolo nimmt am 21. August schriftlich zu den Vorwürfen Stellung. Sie verteidigt den Entscheid, Gruppenaktivitäten fortgeführt zu haben. Gewisse Vorwürfe bestreiten die Verantwortlichen aber auch. So habe man die Covid-Station im ersten Stock «entsprechend den logistischen/strukturellen Möglichkeiten» umgesetzt. Und erkrankte Personen teils auch in den einzelnen Zimmern isoliert.

Abschliessend schreibt die Direktion, die Aggressivität des Virus habe es nötig gemacht, «einzugreifen und auf das Management des einzelnen klinischen Falls einzuwirken, anstatt sich auf die Schaffung von Management-Tools zu konzentrieren».

Im Circolo passierte also das, was gerade in der ersten Welle womöglich auch in anderen Altersheimen geschehen ist. Jahrelang funktionierten die Führung, die Organisation, das Management in einem normalen Rhythmus. Dann kam die Pandemie und riss innert Tagen alles ein. Nicht nur die Bewohner und das Personal haben gelitten. Auch die Führung des Circolo war offensichtlich überfordert. Sie wollte den betagten Menschen etwas Unterhaltung bieten, sie nicht komplett vereinsamen lassen. Es waren menschliche Entscheide. Das heimtückische Virus nutzte das aus.

März 2021 ·Bis heute bleibt unklar, wie viele Personen im Circolo del Ticino genau an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben sind. Der Kantonsarzt schreibt von 27 Toten mit Symptomen, 22 davon mit positivem Abstrich. Das Heim selbst gibt nur 20 Covid-Todesfälle an. Und laut der Stadt Bellinzona waren es 21, sieben weitere Rentner seien in jener Zeit wegen anderer Gebrechen verstorben.

Für Angehörige wie Valeria ist es ein unsägliches Durcheinander. «Es fehlt an Professionalität», sagt sie. «Aber es fehlt auch an Demut.» Bald ist es ein Jahr her, seitdem ihr Ehemann Giorgio im Circolo del Ticino verstarb. Allein, ohne seine Ehefrau an der Seite – oder zumindest am Telefon. «Dieses Ende macht mich traurig», sagt Valeria. «Ich hatte ihm versprochen, in den letzten Minuten an seiner Seite zu sein. Und konnte das nicht tun.»

Ein Mitarbeiter des Circolo, der anonym bleiben möchte, zeigt Verständnis für die Trauer und die Wut der Angehörigen. Er könne nachvollziehen, dass jetzt Fragen aufkommen, was sich im Circolo genau abspielte. «Aber ich verstehe nicht, warum uns manche Leute vorwerfen, wir hätten schlechte Arbeit geleistet», sagt der Angestellte. «Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet.» Man habe eine Menge Überstunden geleistet, um gegen das Virus anzukämpfen. Trotzdem ging der Kampf verloren. «Jeder Todesfall war auch für uns ein Rückschlag.»