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Was Sie über unser Agrarwesen wissen müssen

Am 13. Juni stimmen wir über zwei Vorlagen ab, die das Schweizer Agrarwesen radikal umbauen wollen: Direktzahlungen an Bauern sollen neu gesteuert, der Pestizideinsatz stärker reguliert, die Produktion ökologischer werden. Eine grosse Übersicht zeigt, wie unsere Landwirtschaft aktuell ausgerichtet ist.

Salome Müller, Hans Brandt, Patrick Meier, Patrick Vögeli
Aktualisiert am 24. Mai 2021

Zwei Agrarinitiativen wollen eine umweltfreundlichere Landwirtschaft in der Schweiz erreichen. Die Trinkwasserinitiative sieht dafür eine Steuerung über Direktzahlungen an die Bauern vor, die Pestizidinitiative verlangt ein Verbot von synthetischen Pestiziden.

Beide Initiativen polarisieren, weil sie das Schweizer Agrarwesen radikal umbauen würden. Aber worüber sprechen wir eigentlich, wenn wir von unserer Landwirtschaft reden?

1
Betriebe und Nutztiere

Die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe in der Schweiz geht seit Jahrzehnten zurück. 2020 gab es noch 49’363 Betriebe – 675 Höfe weniger als im Jahr zuvor. Gleichzeitig werden die Betriebe grösser. Ein Hof bewirtschaftet im Durchschnitt 21 Hektaren.

2019 war die landwirtschaftliche Nutzfläche insgesamt 1 Million Hektaren gross, 70 Prozent davon sind Grünflächen, etwa Wiesen und Weiden.

In den vergangenen 45 Jahren hat sich auch der Bestand der Nutztiere verändert. Die Anzahl der Hühner hat sich praktisch verdoppelt: Die Nachfrage nach Poulet und Eiern ist stark gestiegen. Gleichzeitig ging der Bestand von Schweinen, Rindern und Kühen zurück. 2020 erreichte der Kuhbestand mit 680’000 Tieren den tiefsten Wert seit 1996.

Entwicklung der Nutztierhaltung

In Prozent, seit 1975
Lesebeispiel: 2020 gab es fast doppelt so viele Hühner in der Schweiz wie im Referenzjahr 1975.

Nutztiere

2020, Tiere in Tausenden

Im Jahr 2020 gab es in der Schweiz insgesamt ca. 15 Millionen Nutztiere. Hühner machen mit 78,1 Prozent den grössten Anteil aus. Die Geflügelhaltung erlebte zwischen 2006 und 2019 einen regelrechten Boom: Die Zahl der Mastpoulets nahm noch stärker zu als die der Legehennen.

2
Futtermittel

Ein zentrales Anliegen der Trinkwasserinitiative ist die Futtermittelproduktion. Nur noch jene Landwirtschaftsbetriebe sollen Subventionen erhalten, die ihre Tiere mit eigenem Futter ernähren können.

Rindvieh, Schafe und Ziegen leben vorwiegend von Raufutter. Es stammt von Wiesen und Weiden und wird fast ausschliesslich in der Schweiz produziert.

Schweine und Hühner essen Kraftfutter wie Weizen oder Soja, das einen höheren Proteinanteil hat; mehr als zwei Drittel davon stammen aus dem Ausland.

Seit 1990 hat sich der Import von Futtermittel fast verfünffacht und betrug 2018 nach Proteingehalt berechnet 293’000 Tonnen. Das im Inland hergestellte Futter ging von 1’045’000 Tonnen 1990 auf 873’000 Tonnen (ebenfalls nach Proteingehalt berechnet) 2018 zurück – eine Abnahme von 16 Prozent.

Herkunft der Futtermittel

In 1000 Tonnen (Proteingehalt)
Lesebeispiel: Im Jahr 2018 wurden 293'000 Tonnen Futtermittel importiert (Proteinanteil). Dies entspricht rund 25 Prozent des gesamten Futtermittelbedarfs.

Auch Milchkühe erhalten teilweise Kraftfutter. Aber vom importierten Futter abhängig ist vor allem die intensive Schweine- und Hühnerproduktion, die seit Jahren boomt. Ohne Importfutter würde die Menge an Schweizer Pouletfleisch und Eiern drastisch sinken, jene von Schweinefleisch wäre stark betroffen.

Futteranteil Inland und Import

Dreijahresmittel 2016-2018, Proteingehalt im Futter, in Tonnen pro Jahr
Importanteil
Inlandanteil

Rindvieh

587’230 t

Schweine

133’919 t

Hühner

75’635 t

Fleischproduktion aus Inland- bzw. Importfutter

Nutzbares Fleisch (ohne Knochen, Nettogewicht), in Tonnen pro Jahr

Importiertes Futter erlaubt es, die Zahl der landwirtschaftlich genutzten Tiere in der Schweiz stark zu steigern. Das wiederum verursacht mehr Gülle und trägt zur Belastung des Grundwassers bei.

3
Pestizide

Die Trinkwasserinitiative und die Pestizidinitiative sehen ein Verbot von Pestiziden vor. Die Pestizidinitiative geht weiter. Sie will einerseits synthetische Pestizide in der Landwirtschaft verbieten und andererseits importierte Lebensmittel, die unter Einsatz von synthetischen Pestiziden produziert wurden.

Als Pestizide bezeichnet man Substanzen, die eingesetzt werden, um als schädlich betrachtete Lebewesen zu töten oder deren Keimung, Wachstum oder Vermehrung zu hemmen.

Pestizide kann man im Wesentlichen in folgende Kategorien einteilen:

  • Herbizide (Unkrautgifte)
  • Fungizide (Pilzgifte)
  • Insektizide (Insektengifte)
  • weitere Chemikalien, die zum Schutz der Gesundheit von Menschen und von Produkten eingesetzt werden – etwa Desinfektionsmittel oder Rattengifte

Hier erhalten Sie Antworten auf die wichtigsten Fragen zu Pestiziden

Pestizidverkauf

In Tonnen verkaufter Pestizide

Einsatz von konventionellen Pestiziden

2018, Hochrechnung nach Gewicht

Die Menge der verwendeten Pestizide ist in den zehn Jahren seit 2008 nur sehr leicht zurückgegangen. Ein Teil der Insektizide und Fungizide wurde aber durch biokonforme Varianten ersetzt. Es gibt keine Herbizide, die für die Bioproduktion zugelassen sind.

Fungizide werden mit 271 Tonnen pro Jahr am meisten in Reben gespritzt – im Weinbau werden alle anwendbaren Präventivmassnahmen ergriffen, um die Verbreitung von Krankheiten und Schädlingen zu verhindern.

4
Nutzung des Agrarlandes

Die Schweizer Karte zeigt, in welchen Regionen welche Produktionsart dominiert.

Wählen Sie eine Kategorie aus, um die kantonale Landnutzung zu sehen.
Getreide
Kartoffeln
Zuckerrüben
Obst
Weinreben
Gemüse
Raps
Rindvieh
Schweine
Hühner

5
Finanzierung der Landwirtschaft

Der Bund unterstützt die Landwirtschaft jährlich mit durchschnittlich 3,5 Milliarden Franken. Direktzahlungen machen mit 2,8 Milliarden Franken den grössten Teil der Steuergelder aus. Betriebe, die Direktzahlungen erhalten, müssen eine Reihe von Anforderungen erfüllen – darunter der ökologische Leistungsnachweis, der einen Mindeststandard für umweltgerechte Landwirtschaft vorschreibt. Für verschiedene andere Massnahmen werden jährlich 700 Millionen Franken gezahlt, die nicht unbedingt direkt an Bauern gehen, darunter die «Verkäsung» von Milch, die Förderung von neuen Absatzmärkten oder die Vermarktung von Schweizer Fleisch.

So viele Direktzahlungen sind 2019 in die Schweizer Landwirtschaft geflossen

2019, insgesamt 2,8 Milliarden Franken

2019 setzten sich die Direktzahlungen wie folgt zusammen:

  • 1081 Mio. Versorgungssicherheitsbeiträge: Damit soll die Produktionskapazität für den Fall von Versorgungsengpässen aufrechterhalten werden. Die Beiträge hängen von der landwirtschaftlichen Nutzfläche ab.
  • 528 Mio. Kulturlandschaftsbeiträge: Das Geld soll sicherstellen, dass landwirtschaftlich nutzbares oder ökologisch wertvolles Land frei bleibt und Waldwuchs verhindert wird.
  • 489 Mio. Produktionssystembeiträge: Bestimmte Produktionsarten werden gefördert, z. B. die tierfreundliche und die Bioproduktion, der Anbau von Getreide oder Raps ohne Einsatz von Fungiziden oder Insektiziden.
  • 418 Mio. Biodiversitätsbeiträge: Das Geld soll Artenvielfalt und Lebensräume fördern. Die Biodiversitätsflächen müssen während acht Jahren nach entsprechenden Anforderungen bewirtschaftet werden: z. B. ohne Dünger undPflanzenschutzmittel.
  • 146 Mio. Landschaftsqualitätsbeiträge: Unterstützt werden Projekte der Kantone zur Erhaltung, Förderung und Weiterentwicklung vielfältiger Kulturlandschaften.
  • 104 Mio. Übergangsbeiträge: Entschädigung aufgrund der Systemumstellung sowie Kürzungen und Rückzahlungen.
  • 37 Mio. Ressourceneffizienzbeiträge: Die Beiträge sollen die Nutzung der natürlichen Ressourcen und die Effizienz verbessern.

Auf einzelne Produkte heruntergebrochen, setzen sich die Direktzahlungen wie folgt zusammen:

Wie sind die landwirtschaftlichen Produkte finanziert?

2018, in Millionen Franken
Lesebeispiel: Geflügel wird mit 326 Millionen Franken zum grossen Teil von den Konsumentinnen direkt (an der Ladenkasse) bezahlt. Nur 41 Millionen werden von Steuerzahlerinnen über Subventionen (Direktzahlungen) finanziert.

6
Selbstversorgungsgrad

Ernährungssicherheit ist in der Schweizer Verfassung seit 2017 verankert (Artikel 104a). Die Schweizer Landwirtschaft soll die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgen. Der Selbstversorgungsgrad wird definiert als Verhältnis der Inlandproduktion zum inländischen Gesamtverbrauch.

2019 wurde der Schweizer Nahrungsmittelverbrauch zu 57 Prozent mit Produkten aus inländischer Erzeugung gedeckt – dieser Wert, nach Energiegehalt der Produkte berechnet, ist seit 20 Jahren relativ konstant. Der Netto-Selbstversorgungsgrad liegt etwas tiefer, weil das importierte Futter einberechnet werden muss.

Die Schweiz produziert mehr Milch und Milchprodukte, als sie verbraucht (116 Prozent). Der Bedarf an Früchten wird von der Schweizer Landwirtschaft nur zu einem Viertel gedeckt, der Bedarf an Eiern und Gemüse zur Hälfte.

Selbstversorgungsgrad

2019, in Prozent

7
Die Entwicklung von Bio

Der biologische Landbau nimmt zu. 7561 Höfe produzierten im vergangenen Jahr biologisch: Das entspricht 15,3 Prozent aller Betriebe und 17 Prozent der gesamten Landwirtschaftsfläche. Allerdings sind das Steigerungen auf sehr niedrigem Niveau: Die konventionelle Landwirtschaft macht immer noch mehr als 80 Prozent der Produktion aus, ihre überragende Vorherrschaft bleibt ungebrochen.

In jüngster Zeit ist der Bioanteil bei Geflügel besonders stark gewachsen: von 5 Prozent 2005 auf 10 Prozent heute. Auch die Ackerfläche wird zunehmend biologisch bewirtschaftet: 1990 lag der Anteil bei 1 Prozent, im Jahr 2020 waren es knapp 10 Prozent.

Bioanteil

Anteil der Tiere, die auf einem Biohof gehalten werden bzw. Anteil der Bioackerflächen
Lesebeispiel: Im Jahr 2020 wurden 14 Prozent aller Rinder auf einem Biohof gehalten und 10 Prozent aller Ackerflächen wurden nach Biostandard bewirtschaftet.

Der Ursprung des Labels Bio liegt in den Umweltskandalen Ende der 1980er-Jahre. Damals wurde fast täglich über Hormonfleisch oder erhöhte Nitratwerte im Kopfsalat berichtet, über Lebensmittel voller Chemie. In den 90er-Jahren wurde Bio massentauglich. 2020 wurden in der Schweiz 3,8 Milliarden Franken mit Bioprodukten umgesetzt.

8
Politische Meilensteine

Mit der Einführung von Direktzahlungen 1992 begann eine neue Ära der Schweizer Agrarpolitik. In einem Zeitstrahl zeigen wir einige der Meilensteine in der Entwicklung dieser Politik bis heute – kommentiert von Urs Niggli, einem der besten Kenner der Materie in der Schweiz.

Urs Niggli (67) gilt in der Schweizer Biobewegung als Visionär und Vorkämpfer. Er war dreissig Jahre lang Chef des Fibl, des Forschungsinstituts für biologischen Landbau. Niggli ist einer der international bekanntesten Agrarwissenschaftler. Er ist Gründer und Leiter des Instituts agroecology.science.