Jahrelang hat die kleine rechtsextreme Szene in der Schweiz stagniert. Doch die Corona-Krise verlieh ihr nun ausgerechnet bei den Jungen grossen Auftrieb. Obwohl an den Demonstrationen der Massnahmengegner anteilsmässig nur wenig Rechtsradikale vertreten waren, nutzte eine Gruppe von Neonazis die günstige Gelegenheit, neue Anhänger zu rekrutieren – vor allem junge Männer.
Während rund 18 Monaten hat diese Zeitung die Szene offen und verdeckt beobachtet und vieles davon auf Video festgehalten, an Demonstrationen der Impfskeptiker ebenso wie bei rechtsradikalen Veranstaltungen. Im Zentrum des Interesses stand die Junge Tat und ihre Mentoren aus der alten Garde der Neonazis. Sie ist die derzeit dynamischste und am schnellsten wachsende rechtsextreme Gruppierung.
Am 22. Januar zum Beispiel konnte die Junge Tat an einer Corona-Demonstration in Bern etwa 30 Mitglieder und Anhänger mobilisieren und mit ihnen die Spitze des Umzugs übernehmen. Dies ist bemerkenswert, denn zwei Jahre zuvor hatte es diese Gruppierung noch gar nicht gegeben. Wie konnte es zu so einem Aufstieg kommen?
Den Anfang machte im Februar und März 2020 eine Handvoll Jugendlicher teils aus Winterthur und von der Zürcher Goldküste. Sie klebten unter anderem rassistische Sticker an Laternenpfähle. Der Winterthurer Kunststudent Manuel C. verklebte in einer Nachtaktion auch das Eingangsportal der Tamedia-Redaktion mit antisemitischen Pamphleten, wie Überwachungsvideos belegen. Begleitet wurden solche Strassenaktionen von einer virulenten nationalsozialistischen Propaganda in den sozialen Medien, vor allem auf Telegram.
Zunächst nannten sich diese Neonazigruppen noch Eisenjugend und Nationalistische Jugend Schweiz (NJS). Die Stadt Winterthur schätzte die Grösse der Szene 2020 auf bloss 5 bis 10 Personen. Aus einer Handvoll Personen ist heute eine bedeutende Gruppe geworden. Mitglieder sind es wohl nur wenige Dutzend, doch die Zahl der Sympathisanten ist grösser geworden, und das ist heute entscheidend.
«Durch das Internet ist es nicht mehr so wichtig, ob man Mitglied einer Gruppierung ist», sagt Damir Skenderovic, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg und Experte für Rechtsradikalismus in der Schweiz. «Es reichen ein paar wenige Propagandisten und Ideologen, die eingeschworen sind und im Internet auf sich aufmerksam machen und damit eine Anlaufstelle bilden.»
Drei Faktoren haben zum Aufstieg der Jungen Tat beigetragen: erstens die Unterstützung durch ältere Neonazigruppen wie Blood & Honour oder Eisern Luzern; zweitens die zumindest oberflächliche Abkehr der Gruppe von direkt nationalsozialistischen Parolen, die mögliche neue Mitglieder vor den Kopf stossen würden. Und drittens die Corona-Massnahmen, unter denen Jugendliche überproportional litten.
Ein Teil der Rekrutierung besteht darin, belastete Begriffe zu vermeiden und durch neue zu ersetzen, die aber das Gleiche meinen. Wie in Deutschland und Österreich vermeiden moderne Schweizer Neonazis zum Beispiel den Begriff «Rasse» und ersetzen ihn durch «Kultur». Es ist dann nicht mehr von «Andersrassigen» die Rede, sondern zum Beispiel von «kulturfremden» Ausländern, die man am liebsten in ihre Heimatländer zurückschicken würde. Sie sprechen diesen «Kulturfremden» nicht grundsätzlich das Existenzrecht ab, sondern möchten einfach, dass die verschiedenen Kulturen – sprich Rassen – für sich in getrennten Gebieten leben. Also eine Art Apartheid hinter Landesgrenzen.
Auch wenn moderne Neonazis noch manchmal Tätowierungen und Glatzen tragen, hat sich ihr Äusseres stark verändert. Bei der Jungen Tat und anderen Gruppen sind zum Beispiel Turnschuhe der Marke New Balance beliebt. Ausserdem schwarze Jacken von North Face. Rechtsradikale lieben den Anfangsbuchstaben N dieser Marken, weil sie es mit den Begriffen National oder Nationalsozialistisch verbinden. Als Logo verwendet die Junge Tat eine Rune, die in der Hitlerjugend vor 80 Jahren als Leistungsabzeichen diente. Sogar ihre Frisuren gleichen oft jenen der Hitlerjugend.
Allerdings machen bei der Jungen Tat auch vereinzelte Langhaarige mit. Da wäre zum Beispiel ein 27-jähriger Schwyzer, der eine kaufmännische Lehre bei einer Vermögensverwaltungsbank in Zürich absolviert hat und heute unter anderem Hobbymusiker und Gitarrist einer Death-Metal-Band ist. Die meisten Sympathisanten kommen aus der Deutschschweiz, doch hat diese Zeitung auch schon Westschweizer sowie Deutsche und Franzosen aus dem grenznahen Ausland bei der Jungen Tat beobachtet.
Bei ihrem Aufstieg haben der Jungen Tat auch die Vernetzung mit anderen Gruppen geholfen. Zum Beispiel mit der bisher weitgehend unbekannten Neonazigruppierung Eisern Luzern. Recherchen und Videoaufnahmen belegen nun erstmals, dass die Junge Tat im letzten Sommer an einem Seilziehturnier von Eisern Luzern teilnahm. Im Herbst stellte ihnen dann ein Bauer und Mitglied der kleinen Innerschweizer Neonazitruppe einen Raum für einen Vortrag zur Verfügung, wie ein Zuhörer dieser Zeitung erklärte. Thema: Kann Parteipolitik dazu beitragen, die von den Neonazis gewünschten politischen Veränderungen herbeizuführen?
Videoaufnahmen zeigen nun auch, wie die Junge Tat an Corona-Demonstrationen gemeinsam mit Eisern Luzern auftrat. Zusammen mit ihren Videos und Transparentaktionen ist es diese öffentliche Präsenz, die der Gruppe einen derartigen Auftrieb gab.
Gruppierungen wie die Junge Tat versuchen die Wut, die in der Pandemie entstanden ist, für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, sagt Experte Skenderovic. «Dass diese Debatte in der Schweiz kaum stattfindet, zeigt einmal mehr das fehlende Sensorium für Rechtsextremismus in unserem Land.»
So setzen rechtsextreme Gruppierungen, die jahrelang mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen hatten, nun plötzlich ihre Hoffnungen in die Jugend-Truppe. Die neue Videodoku zeigt das mit einer Aufnahme von der traditionellen Schlachtfeier in Sempach im Sommer 2021: Dabei nahmen 80 meist wesentlich ältere Neonazis teil. Doch als Hauptredner trat Manuel C. auf, der Anführer der Jungen Tat.
*Pseudonym, echter Name der Redaktion bekannt.